Mittwoch

Der letzte Wunsch


Ohne Essen und allein durch die Wildnis laufen, bis nichts mehr geht – wer diesen Selbstversuch wagt, springt wie Goethes Zauberlehrling zwischen die Fronten von Machtrausch und Verzweiflung. Das Unheimlichste: Man ruft Geister und wird sie nicht mehr los.



Die Szenerie: Schön, wild und gottverlassen




+++ WASSER +++

Bitte, Wärme! Mitten in der schwedischen Waldeinsamkeit steht eine leere Kåta, eine achteckige Holzhütte, darin ein kniehoher, eiskalter Ofen und ich. Draußen prasselt der Regen auf das Dach, der Wind heult um den Giebel, und ich kann den verdammten Rucksack nicht ausziehen. Meine kältelahmen Hände bekommen die Brustgurt-Schnalle nicht auf. Schließlich streife ich ihn ab wie einen Pullover. Das triefende T-Shirt folgt gleich hinterher; meinen Oberkörper wickle ich in eines der herumliegenden Felle, wahrscheinlich Rentier. Etwas wärmt es, gegen das Schlottern hilft es nicht.

Nächstes Problem: Den Deckel meines wasserdichten Feuerzeugs aufschrauben. Ein Kind könnte das. Meine Hände nicht. Ich schaffe es schließlich mit den Zähnen, während ich das Feuerzeug mit den Knien festhalte.


Sehen so Wagnisexperten aus?

Voll Scham und Dankbarkeit genieße ich den Schutz vor Wind und Regen. Weil das gesamte Camping-Gelände vollkommen verlassen war, bin ich quasi in diese Hütte eingebrochen. Es ging nicht anders, viel länger hätte ich da draußen nicht durchgehalten.


Siegbert Warwitz, Wagnisexperte, (so nennt er sich wirklich) meint, Abenteuer wie dieses schafften Werte – in persönlicher Entwicklung wie in Kultur und Gesellschaft. Sie motivieren, inspirieren, schaffen Lebensqualität. Andere Soziologen stellen die sogenannte „Ordealtheorie“ dagegen, nach der Grenzgänger bloß verzweifelt um den Sinn ihrer Existenz ringen.

Beängstigend schnell war meine Verwandlung vom heldenhaften Entdecker zum hilfsbedürftigen Elend! Das Naturreservat Kynnefjäll ist eine entlegene skandinavische Wildnis. Dort gibt es viele Flüsse und Seen mit sauberem Wasser. Wanderwege. Wölfe, Bären, Luchse. Und man darf, wie fast überall in Schweden, wild campieren, solange man vernünftig mit der Natur umgeht. Meine Idee war, hier so lange ohne Essen zu laufen, bis der Körper streikt.

Dabei treibt mich jenseits aller Theorien ein Wunsch – intensiv zu wünschen. Aber nichts mit Geschäftsabschluss, gelungenen Präsentationen oder guten Schulnoten der Kinder, sondern brennend, strudelnd, tiefwurzelnd und hochfliegend zu wünschen. Die einfache Logik: Wenn ich meine Grundbedürfnisse nach Nahrung und Schutz aufgebe, wenn ich die gewohnte Komfortzone verlasse, wenn es richtig, richtig hart wird, muss das zwangsläufig passieren.

Und das war passiert: Gegen zwei Uhr mittags, am Freitag vor dem Pfingstwochenende, lasse ich mein Auto auf einem einsamen Parkplatz namens „Kasebo“ zurück. Es regnet ergiebig, und kalte Böen fegen durch den Wald um mich. Allem wollte ich die Stirn bieten: Hunger, Einsamkeit, Wetter. Die Geister, die ich rief, hier ziehen sie auf.

Schon nach einer Viertelstunde auf einem Wanderweg namens „Bohusleden“, der hier entlang führt, ist meine Laufkleidung – T-Shirt und kurze Tights, dazu ein Laufrucksack – durchnässt und verschlammt.



Das Geläuf ist ein Traum, leider ein feuchter

Trotzdem habe ich Spaß. Der Weg ist anspruchsvoll und lenkt ab: Rutschiger Fels, glitschige Planken über Morast, Morast ohne Planken, viel Auf und Ab. Körperlich fühle ich mich stark, das bisschen Regen kann Läufern doch nichts anhaben.

Nach einer Stunde meldet sich das Gefühl, Shirt und Shorts wären bei zehn Grad und prasselnder Regengischt dann doch zu wenig. Also fische ich einen ultraleichten Windbreaker aus dem Laufrucksack und streife ihn über. Meine Hände sind steif vor Kälte, egal, ich laufe ja mit den Füßen.

Nach 15 Kilometern verlasse ich den Bohusleden, um irgendwann auf einen zwölf Kilometer langen Wanderweg namens „Vitingeleden“ entlang des Flusses Kynneälv zu stoßen. Als ich ihn – über viele Feldwege ohne Blätterdach – endlich erreiche, ist meine Haut unter dem triefnassen Windbreaker („hält auch einen Regenschauer ab“) leichenblass und leichenkalt.

„Schneller laufen, das wärmt“, denke ich, aber der Vitingeleden macht mir einen Strich durch die Rechnung. Der „Weg“ ist nichts weiter als eine rutschige, felsige, schlammige, wurzelige Kante an einem Fluss, dessen Brausen lauter ist als ein Hilfeschrei. Bisher habe ich nicht einen Menschen getroffen. Wenn ich hier abrutschte, wer wird mich finden?



Den Weg erkennt man erst, wenn man direkt davor steht


Dann, tatsächlich: Ich stürze in den Fluss. Ein nasser Fels war zu rutschig, es ging blitzschnell. Glück im Unglück: Die Beine finden Halt, ich stehe nur bis knapp über die Knie im Wasser. Schnell will ich den glitschigen Uferfelsen wieder hochklettern, mich an Gräsern und Zweigen festhalten. Doch selbst in dieser prekären Lage gehorchen meine Hände kaum, die Kraft scheint sie verlassen zu haben. Einen schwerelosen Moment lang balanciere ich zwischen einem erneuten Fall in den schwarzen Kynneälv und dem rettenden Ufer. Es wird das Ufer. Glück und Verzweiflung liegen manchmal dicht beieinander.

Spätestens jetzt ist klar: Ich brauche ein Dach überm Kopf. Laut meiner durchweichten Karte steht in einem winzigen Dorf namens Flötemarken, acht Kilometer von hier, auf einem Naturcampingplatz eine Kåta. Ein letzter Funke Hoffnung inmitten von Schlamm und Wasser.


+++ FEUER+++

Die Einrichtung der Kåta ist knapp über Wikingerniveau: Holzbänke und -tische an den Wänden, viele Felle, nackter Erdboden und – Halleluja – der Ofen samt Feuerholz.

Das Holz ist trocken und brennt mit zerrupfter Rinde gut an. An Kamin oder Lagerfeuer zu sitzen gefiel mir schon immer. Aber das ist kein, absolut kein Vergleich zu der Hingabe, mit der mein Körper die Wärme dieser Ofenglut aufsaugt. Ich bin froh wie nie in meinem Leben über ein simples Feuer. Wenn jetzt jemand kommt – egal. Hier gehe ich nicht mehr weg.

Mehr als zwei Stunden sitze ich vor der offenen Ofenklappe und trockne meine Ausrüstung. Fast alles bis auf den Schlafsack, dessen Packsack dichthielt, ist nass oder durchweicht. Bei Liegeunterlage, Wasserfilter, Plastikflasche, Rettungsdecke und Mückenstift macht das wenig aus, die sind wasserfest. Aber bei Daunenjacke, Windbreaker und den Kleidungsstücken, die ich beim Laufen anhatte, ist es unangenehm. Etwas zum Wechseln habe ich nicht dabei. Auch mein Kartenmaterial ist kaum noch zu erkennen. Zum Glück ist mein Smartphone (samt Powerbank) wasserfest, die Navigation damit funktioniert ausgesprochen gut.

Was immer ich im „wirklichen“ Leben bin oder darstelle, jetzt bin ich dankbar über ein Feuer und dafür, einfach nur am Leben zu sein. Hunger spüre ich keinen. 


Dankbar zu sein sei eine sehr wirksame Medizin für psychische Gesundheit, belegt „The Psychologist“ mit Studien. Dankbar war ich für Hilfe – und mir sehr bewusst, dass ich sie stahl. Schutz und Wärme waren für mich lebensnotwenig, den Hüttenbesitzer kostete das bloß ein paar Scheite Brennholz. So rechtfertigte ich mich. Tragik dieser Logik ist: Wäre ich Hüttenbesitzer gewesen, hätte ich mich – vor diesem Lauferlebnis – aus der Kåta gejagt. Ohne jedes Verständnis für das simple, aber existenzielle Bedürfnis nach Schutz. Heute sehe ich das natürlich anders.


+++ LUFT+++

Zum Frühstück filtere ich eiskaltes Wasser aus dem Kynneälv. Draußen sind sieben Grad, die Sonne scheint vom weiten, blauen Himmel, es ist fast windstill. Der Regen der letzten Nacht liegt abgekämpft auf der Wiese am Fluss und dampft in Schwaden. Heute werde ich vor ihm Ruhe haben.

Bemerkenswert, wie regeneriert ich bin. Und wie schön es hier draußen ist.



Die vielen Seen sind nicht nur optisch erfrischend, ...

Ich laufe. Vorbei an schäumenden Flüssen und glitzernden Seen durch endlose Wälder. Das einzige Zeichen von Menschen ist eine winzige und abgelegene Ruine aus Feldsteinen, die vor vielen Jahren einmal eine Kirche gewesen sein soll. Viel weiter als gedacht, dem Bohusleden folgend bis über die norwegische Grenze. Dort kehre ich um und suche mir per Handy und den sehr guten Wander- und Radkarten von Openstreetmap Pfade, auf denen ich wieder in Richtung Auto komme.


... sondern auch als Trinkwasser

Heute filtere und trinke ich viel Wasser, probiere so klare wie wohlschmeckende Seen wie den Kornsjön oder Trantjärn. Ansonsten ernähre ich mich von Luft. Die Wildnis habe ich für mich. Menschen sehe ich keine, dafür eine Elchkuh.

An einem besonders hübschen Rastplatz am See Norra Kornsjön lege ich mich auf einem Felsen in die Sonne und tanke Wärme. Um an mein körperliches Limit zu gehen, hilft diese Pause nicht. Aber nach der Kälte gestern ist sie eine Lust. Genau wie nach einer halben Stunde wieder loszulaufen.

Hunger spüre ich keinen.

Was passiert da medizinisch, wenn man lange ohne Essen läuft, frage ich den Ernährungsexperten und Bestsellerautor Dr. Wolfang Feil. Überraschenderweise lobt er die Aktion: Der Körper sei schlauer, als wir denken, erklärt er, und schüttet in so einer Situation das Wachstumshormon HGH aus. „Und dann zeigt der Stoffwechsel, zu was er fähig ist, verbrennt mehr Fett, kurbelt die Mitochondrien-Neubildung an, kuriert Verletzungen schneller – eine Gesundung, die sich außerdem noch gut anfühlt. Und dazu ein tolles Fettstoffwechseltraining – wenn man danach über drei Tage langsam die Kohlenhydrat-Reserven auffülle, steigt die Leistungsfähigkeit im Anschluss deutlich.“ Kurz, aus medizinischer Sicht mache ich hier reinen Wellnessurlaub.

Nach 48 Kilometern kommt ein massiver Durchhänger. Obwohl der Weg es zuließe zu laufen, fange ich an zu gehen. Immerhin bin ich schon sieben Stunden unterwegs; dieses Terrain reduziert meine gewohnte Laufgeschwindigkeit bei gleicher Anstrengung erheblich. Sieben Kilometer, das sind zuhause 35 Minuten Jogging, hier dagegen eine Stunde irrwitzige Plackerei durch Matsch voller Granit-Stolperfallen und Wurzel-Tentakel. Kommt jetzt das Ende? Bin ich da, wo ich sein will, am Limit, wo ich nur noch aufhören will?


Wer bis zum Ende durchhalten möchte: Diese und andere ziemlich spezielle Laufstories findet ihr in unserem Buch "Laufreportagen".

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